Eine kurze Sammlungsgeschichte
Die ethnologische Sammlung wurde im Oktober 1853 durch einen Beschluss des König Georg V. von Hannover gegründet, der bestimmte, dass eine „Sammlung ethnographischer Gegenstände“ für das damals neu zu erbauende Vereins-Museum angelegt werden solle. War sie zunächst noch Bestandteil der naturhistorischen Abteilung, wurde die ethnologische Sammlung später der historischen Abteilung zugeteilt und in die vor- und frühgeschichtlichen Sammlungen integriert. 1917 übernahm der Ur- und Frühgeschichtler Karl Hermann Jacob-Friesen die Leitung der von nun an als „prähistorisch-ethnographisch“ bezeichneten Abteilung, in der die ethnologische Sammlung dafür missbraucht wurde, außereuropäisches Kulturgut als Vorstufe europäischer kultureller Entwicklung und Vergleichsmaterial zu archäologischen Objekten Niedersachsens herabzusetzen. Seit 1922 die ethnologische Sammlung abgebaut wurde, um mehr Ausstellungsfläche für die Archäologie zu gewinnen, wurden verschiedene ethnologische Sonderausstellungen gezeigt, so etwa 1935 bis 1943 drei aufeinanderfolgende, propagandistische Kolonialausstellungen.
Die Einstellung Gerd Kochs 1954 als studierter Ethnologe (damals Völkerkunder) gilt in der Geschichte der Sammlung als Wendepunkt hin zu einer fachspezifischen und wissenschaftlichen Ausrichtung der Sammlungsarbeit. Am 1.11.1962 wurde die Ethnologie (damals als Völkerkunde) formal als eigenständige Abteilung institutionalisiert und wird seither von Ethnolog*innen mit unterschiedlichen regionalen und thematischen Arbeitsschwerpunkten geleitet und geprägt. Eine ethnologische Dauerausstellung wurde erst 1995 wieder realisiert. Die derzeitige Sammlungspräsentation als Teil der MenschenWelten besteht seit 2015 und zeigt eine Auswahl von etwa 580 Objekten. Alle weiteren Objekte lagern vollständig inventarisiert und nach musealen Standards fachgerecht verwahrt im Depot. Den individuellen Bedürfnissen einzelner Objekte hinsichtlich kultureller Handhabungs- und Aufbewahrungsanforderungen wird dabei nach Möglichkeiten und Kenntnisstand stattgegeben. 2017 wurde der Fachbereich umbenannt und wird seither als Ethnologie bezeichnet.
Sammlungsschwerpunkte
Die regionale Verteilung der gesamten Sammlung stellt sich wie folgt dar: In nahezu gleichgroßen Anteilen sind Objekte der Kontinente Afrika (7605 Nummern), Amerikas (7012) und Asien (6067 Nummern) in der Sammlung vertreten. Von den Kontinenten Ozeanien (3879 Nummern), Europa (323 Nummern) und Australien (247 Nummern) sind Objekte in deutlich geringerer Stückzahl in der Sammlung vorhanden. Inhaltlich wurden die Bestände durch unterschiedliche Einflüsse und Entwicklungen geprägt:
Koloniale Kontexte
Der Gründungsbestand der Sammlung besteht aus rund 320 Objekten und setzt sich aus Geschenken von Reisenden und diplomatischen Vertretungen an das hannoversche Königshaus, Überweisungen des bereits 1773 gegründeten Academischen Museums zu Göttingen, sowie Ethnographika des historischen Vereins für Niedersachsen zusammen. Eine Sammlungsstrategie formulierte erstmals Jacobus Reimers, Direktor des Provinzialmuseums von 1890 bis 1910: Objekte aus den von Deutschland beanspruchten Gebieten sollen in Hannover den „kolonialen Gedanken“ fördern und verbreiten. Hierzu korrespondierte er auf direktem Wege mit Personen, die Posten in der Kolonialadministration oder dem Militär hielten sowie mit Reisenden, Kaufleuten und Siedlern. Diese Strategie wurde von seinem Nachfolger Jacob-Friesen in kolonialrevisionistischer Manier fortgesetzt. So wuchs der Bestand in den Jahren deutscher Kolonialisierung um ca. 7500 Objekte an – das ist etwa ein Drittel der heutigen Sammlung. Man kann daher zu Recht formulieren, dass bis zum Zweiten Weltkrieg Objekte aus kolonialen Kontexten aktiv für die Sammlung eingeworben wurden, woraus sich ein inhaltlicher Schwerpunkt der älteren Bestände der ethnologischen Sammlung ergibt.
Private Sammler*innen
Der Großteil dieser und auch aller späteren Sammlungseingänge geht auf Schenkungen von Bürger*innen Niedersachsens zurück, die private Sammlungen oder Reiseandenken dem Landesmuseum Hannover überließen. Oft waren daher die persönlichen Netzwerke der Sammlungsverantwortlichen entscheidend dafür, woher und über wen Objekte in die ethnologische Sammlung aufgenommen wurden. Damit dokumentiert die Sammlung auch die Bewegung und Tätigkeit von Personen aus Hannover und Niedersachsen in der Welt und zurück. Nur in seltenen Fällen ist dabei dokumentiert, wie die Vorbesitzer*innen ihrerseits Objekte in ihren Besitz nahmen. Manche Einzelsammlungen, die in die ethnologische Sammlung am Landesmuseum eingegangen sind, wurden nach bestimmten Kriterien zusammengestellt und bergen in sich eine gewisse Systematik. Die Sammlung peruanischer Grabbeigaben des Ehepaares Erna und Wilhelm Gretzer zum Beispiel, die Erna Gretzer 1927 nach dem Tod Wilhelms an das Landesmuseum Hannover verkaufte, ist mit 1264 Objekten die umfangreichste Einzelsammlung innerhalb der ethnologischen Sammlung. Zahlreiche Aufnahmen dokumentieren zusätzlich die in Gretzers Auftrag ausgeführten Öffnung und Plünderung von Gräbern. Andere systematische Einzelsammlungen fokussieren zum Beispiel auf Goldstaubgewichte, Zwillingsfiguren, Manillen, Netsuke, oder auf ausgewählte Regionen oder Orte. Zahlreiche weitere Einzelsammlungen bestechen eher durch ihre Diversität und Kontingenz und spiegeln die sich wandelnden Schwerpunkte der Sammler*innenbiografien. Darüber hinaus wurde die Sammlung durch Tauschgeschäfte mit anderen Museen oder dem Kunst- und Ethnografikahandel verändert.
Der Einfluss anderer Sammlungsbereiche
Ebenso heterogen ist die Sammlung im Hinblick auf systematische Themenfelder. In den 1990er Jahren bemühten sich die Kurtaor*innen und Mitarbeiter*innen des Hauses einen ethnomedizinischen Schwerpunkt zu etablieren, indem sie aktiv Heilmittel sammelten, diese mit in der Sammlung bereits vorhandenen medizinischen Objekten und Heilmitteln in Verbindung brachten und dem Schwerpunkt ab 1996 einen Teilbereich der Dauerausstellung widmeten. Als ein weiterer Schwerpunkt, der sich in vielen anderen ethnologischen Sammlungen wiederfindet, wird bisweilen die Sammlung von Zahlungsmitteln angeführt. Dieser Schwerpunkt der ethnologischen Sammlung, wenn man so will, steht in einem interessanten Spannungsfeld zur numismatischen Sammlung des Landesmuseums Hannover, insbesondere zu den kolonialzeitlichen Münzen. Überhaupt hat die interdisziplinäre Umgebung des Landesmuseums Hannover die ethnologische Sammlung stark geprägt. Durch die Nähe zur naturkundlichen Sammlung gelangten Ethnografika in die Sammlung, die von eher naturkundlich versierten Sammler*innen bei deren Forschungsaufenthalten im Ausland als kollaterale Objekte mitgesammelt wurden. Darüber hinaus beherbergt sie als ethnologisch eingeordnete Objekte aus den Sammlungen von Personen, deren jeweilige kunsthistorische Sammlungen in der Landesgalerie verwahrt werden, etwa aus der Sammlung von Konrad Wrede und Klaus und Ruth Bahlsen.
Neue wissenschaftliche Standards
Erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Einzelsammlungen auch nach mehr oder weniger ethnologisch-wissenschaftlichen Maßstäben ihrer jeweiligen Zeit und bisweilen auch explizit zum Verbleib im Museum angelegt. Hierzu zählen insbesondere Sammlungen, die von den Ethnolog*innen der Abteilung von Forschungsaufenthalten mitgebracht wurden. Zum Beispiel erwarb Hans Becher während mehrerer Forschungsreisen 1955-1980 eine Vielzahl an Objekten bei verschiedenen Yanomami Gruppen des mittleren Rio-Negro-Gebiets Brasiliens und Viola König kaufte 1990 einige zeitgenössische Kunstwerke und rezente Schnitzarbeiten verschiedener Künstler*innen der Nordwestküste der USA an. Die zweitgrößte Einzelsammlung geht auf die Wiener Ethnologin Lotte Schomerus-Gernböck zurück, die zwischen 1961 und 1989 in Madagaskar selbst sowie durch Noel Rakotomavo Objekte erwarb und später dem Landesmuseum Hannover verkaufte.
Neben einer Vielzahl an eher alltäglichen und gewöhnlichen oder seriell hergestellten Gebrauchsobjekten beherbergt die Sammlung zahlreiche sensible Objekte, die aufgrund ihrer Bedeutung in den Gesellschaften ihrer Herkunft, ihrer besonderen Singularität, der Macht, die sie verkörpern, oder die Gewalt, mit der sie verbunden sind, mit besonderer Sensibilität gehandhabt werden. Hierzu zählen insbesondere Abbildungen von Gewaltausübungen, rassifizierende und stereotypisierende Darstellungen von Menschen, aber auch geheim-sakrale Gegenstände. In den Depoträumen ruhen derzeit auch einige sterblichen Überreste einiger bislang nicht identifizierten Individuen, etwa mumifizierte Körper und Körperteile aus Peru und Ägypten, sowie Ahnenschädel der Sepikregion. Die sterblichen Überreste einer weiblichen Person wurden 2017 in ihre Gemeinschaft der Lama Lama Familie in Australien repatriiert.
Eine Fülle an zusätzlichem Dokumentationsmaterial
Die ethnologische Sammlung des Landesmuseums Hannover beherbergt auch eine photographische Sammlung, die eine große Anzahl von Bild-, Audio- und Videomedien umfasst. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Photographien gesammelt und angekauft, um visuelle Eindrücke der Regionen, aus denen Objekte gezeigt wurden, zu vermitteln. Meist handelt es sich um einzelne Aufnahmen oder kleine Serien, die zusammen mit Objektsammlungen angenommen oder durch professionalisierte Vertriebswege angekauft wurden. In der Sammlung befinden sich darüber hinaus Objektphotos von Objekten der eigenen Sammlung sowie von Vergleichsobjekten aus anderen Sammlungen. Nicht zuletzt sind vergangene Ausstellungen des Landesmuseums photographisch dokumentiert.
Ethnologisches Sammeln und Forschen produziert meist umfangreiches Dokumentationsmaterial, etwa Notizbücher, Tagebücher, Korrespondenzen, Listen, Adressbücher, Manuskripte und dergleichen, gegebenenfalls auch Literatur, Kopien und Abschriften von Archiv- und Quellenmaterial und Karten sowie Film-, Ton- und Bildmaterial. Die persönlichen Forschungsarchive einiger Sammler*innen und Ethnolog*innen werden in der ethnologischen Sammlung im Landesmuseum aufbewahrt und erlauben einen Einblick in den Forschungsprozess und das Werden wissenschaftlicher Schriften. Nennenswert sind Archive von Lotte Schomerus-Gernböck aus ihrer Forschung in Madagaskar sowie Sammlung und Forschungsvorlass von Godula Kosack, die Ende des 20. Jahrhunderts in Nordkamerun forschte.