Globus

von der romanik bis zum impressionismus

kulturelles erbe verstehen: die kunstgeschichte erforscht und vermittelt kunst vergangener epochen aus heutiger sicht, aber auch im kontext ihrer zeit.

Das Landesmuseum Hannover verfügt über eine bedeutende Kunstsammlung. Präsentiert werden rund 800 Jahre europäischer Kunstgeschichte, aus allen Epochen ragen jeweils besondere Meisterwerke hervor:  Bei der älteren Kunst reicht die Spanne von den Großkruzifixen der Romanik über die sog. Lüneburger Goldene Tafel bis zu Werken des Würzburger Bildschnitzers Tilman Riemenschneider. Die Renaissance ist mit Gemälden Hans Burgkmairs, Lucas Cranachs d. Ä. und Hans Holbeins d. J. sowie einer beachtlichen Sammlung italienischer Gemälde vertreten – die unbestrittenen Glanzlichter bilden hier die Florentiner Manieristen Jacopo Pontormo und Agnolo Bronzino. Auch die Sammlung barocker Gemälde offenbart international Bekanntes von Rang: Nicolas Poussin, Peter Paul Rubens oder Anthonis van Dyck sind nur einige unter vielen in der Galerie vertretenen Malern aus dieser Zeit.

Einen weiteren Kernbereich repräsentieren die Werke des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dazu gehören erstrangige Arbeiten von bedeutenden Malern wie Arnold Böcklin, Gustave Courbet und Caspar David Friedrich – von letzterem haben sich etwa die vier Tageszeiten als vollständige Bildfolge allein in Hannover erhalten. Und weil hier frühzeitig die deutschen Impressionisten Max Liebermann, Lovis Corinth und Max Slevogt gesammelt wurden, sind diese Maler – zusammen mit der Worpsweder Künstlerin Paula Modersohn-Becker – mit großen, ja herausragenden Werkgruppen in der Sammlung vertreten. Auf Anmeldung kann auch das Kupferstichkabinett besucht werden. Hier werden über 20.000 kostbare Arbeiten auf Papier, darunter der grafische Nachlass von Johann Heinrich Ramberg und die wohl umfangreichste Sammlung von Zeichnungen, Radierungen, Kupferstichen und Holzschnitten Max Slevogts bewahrt.

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objekte aus der sammlung

Albrecht Dürer, Der reitende Tod als Bogenschütze, um 1502, Feder auf Pergament, 38.8 x 31.3 cm, Inv.-Nr. Z 5

In die Form eines Dreipasses eingepasst, gibt sich die Komposition als Entwurf für eine Glasscheibe zu erkennen. Aus dem Nürnberger Atelier Albrecht Dürers sind eine ganze Reihe solcher Scheibenrisse erhalten. Hier reitet der Tod, nur mit einem dürftigen Tuch bekleidet, auf einem abgemagerten, sich müde voranschleppenden Klepper. Die skelettierte Gestalt fixiert eifrig ihr Ziel, einen den Tod bringenden Pfeil wird sie wohl gleich abschießen, weitere sind in dem gut gefüllten Köcher zur Hand. Die umlaufende lateinische Inschrift gibt dem düsteren Reiter auch eine Stimme: »Hüte dich, Unglücklicher, dass ich dich, von meinem Geschoss durchbohrt, nicht auf dieses abscheuliche Lager der Totenbahre bette«, ruft der Reiter seinem Gegenüber entgegen.

Zu Dürers feinzeichnerisch in dunkler Tinte ausgeführtem Blatt hat sich ein Pendant im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg erhalten: Es zeigt den Nürnberger Propst Dr. Sixtus Tucher vor seinem eigenen Grab. An ihn richteten sich also die mahnenden Worte – und er ist es, auf den der Reiter mit hochgerissenem Arm seinen tödlichen Schuss ansetzt.

In Zeiten wütender Pestepidemien wollte man auf den Tod vorbereitet sein. Zwei nach den Zeichnungen ausgeführte Glasgemälde hatte der Nürnberger Propst immer vor Augen; sie schmückten die Fenster in seinem Arbeitszimmer und mahnten ihn täglich vor den Gefahren der Pest und der eigenen Vergänglichkeit. Albrecht Dürers grandioser Scheibenriss ist nur eine von vielen Zeichnungen, die das Kupferstichkabinett Hannover zusammen mit unzähligen druckgrafischen Arbeiten bewahrt.

Tilman Riemenschneider, Weibliche Heilige, um 1510, Lindenholz, 42 x 38 cm, Inv.-Nr. WM XXIII, 83

Das weiche Lindenholz eignete sich hervorragend für die differenzierte Ausgestaltung stofflicher Qualitäten. Eine mit Perlen besetzte Agraffe ziert den Kopfputz, die unterschiedliche Beschaffenheit der Gewänder ist gekonnt zur Anschauung gebracht, und das bewegt aufflatternde Ende des Schleiertuchs hat der Würzburger Bildschnitzer souverän wiedergegeben. Heute steht uns die versonnen zu Boden blickende Heilige als Büste gegenüber, ursprünglich aber dürfte es sich um eine stehende Ganzfigur gehandelt haben, die ein früher Sammler unten abgesägt und so zur Büste umfunktioniert hat. Dank der großzügigen Unterstützung einer Gruppe engagierter Frauen aus Würzburg und Hannover konnte das Werk im Jahr 2003 restauriert werden – ein schönes Beispiel für bürgerschaftliches Engagement, das Riemenschneiders unbekannte Heilige zu neuem Leben erweckt hat.

Hans Burgkmair d. Ä., Die Verlobung der hl. Katharina, 1520, auf Sperrholz übertragen, 62 x 53 cm, Inv.-Nr. KM 25, Dauerleihgabe der Landeshauptstadt Hannover

Das mystische Verlöbnis des Jesusknaben mit der hl. Katharina ist hier um Johannes den Evangelisten erweitert. Einem Inventar zufolge hat sich das reizvolle Gemälde 1617 in den Privatgemächern einer Angehörigen der Augsburger Fugger-Familie befunden. Entstanden ist es vermutlich für Katharina Thurzo, die Frau des Raimund Fugger von der Lilie. Hans Burgkmair greift hier eine besonders in der venezianischen Malerei beliebte Darstellungstradition auf, bei der die Muttergottes mit dem Kind als Kniestück und im stillen Gespräch mit Heiligen gezeigt wird. Seinen Namen, das Entstehungsjahr des Gemäldes und seine Herkunft aus Augsburg nennt der Maler auf dem Schriftband zwischen der Gottesmutter und dem Heiligen Johannes.

Hans Holbein d. J., Bildnis des Philipp Melanchthon, um 1535, Buchenholz, Durchmesser 9 cm, Inv.-Nr. PAM 798

Das kleine Rundbild funktioniert wie eine Dose: Nimmt man den Deckel ab, wird im Boden des unteren Teils das Porträt des Reformators und Humanisten Philipp Melanchthon sichtbar. Die Inschrift in dem mit reichen Renaissanceornamenten gefüllten Deckel informiert über die Identität des Dargestellten. Sie spricht den Betrachter direkt an und lobt den Künstler, der das Werk geschaffen hat: »Der Du die Gesichtszüge Melanchthons erblickst, als wären sie beinahe lebendig. Holbein hat sie mit außergewöhnlicher Geschicklichkeit geschaffen«.

Solche Kapselbilder waren als Geschenke unter Kunstkennern und Anhängern der Reformation beliebt. In ihrer kostbaren Ausgestaltung messen sie sich mit zeitgleichen Bildnismedaillen und erreichen durch ihre Ausführung im Medium der Malerei doch ein viel höheres Maß an Wirklichkeitsnähe. Das Porträt des Griechischprofessors und engen Mitstreiters Martin Luthers entstand vermutlich in Holbeins englischer Schaffenszeit und stammt aus kurfürstlich hannoverschem Besitz. Kennengelernt hat Holbein den großen Reformator vermutlich nie. Sein Bildnis stützt sich auf Darstellungen Albrecht Dürers und Lucas Cranachs.

Agnolo Bronzino, Idealbildnis eines Jünglings, um 1545, Pappelholz, 59 x 44 cm (oval), Inv.-Nr. PAM 983

Agnolo Bronzino war in den 1540er Jahren der bevorzugte Bildnismaler am Hof der Medici in Florenz. Seine Porträts sind von würdevoller Distanziertheit und kühler Eleganz, in ihrer brillanten malerischen Ausführung ziehen sie den Betrachter unmittelbar in ihren Bann. Ob es sich bei dem Gemälde in Hannover um das Porträt einer tatsächlichen Person oder um ein reines Idealbildnis handelt, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Durch die ovale Bildform erscheint der Jüngling in einem Ausschnitt, wie er für antike Herrscherbüsten üblich war. Vor dem dunklen Fond tritt der athletische Körper ungemein plastisch hervor, und das von links einfallende Licht modelliert einige Hautpartien, als wären sie aus Marmor. Bronzino sucht also gekonnt den Vergleich mit der Nachbargattung Skulptur und lässt dennoch keinen Zweifel, dass es sich um ein gemaltes Bild handelt. Bei aller Strenge und Kühle blitzt hier und da auch ein besonders sinnliches Moment auf: So enthüllt das rosafarbene Tuch den Körper eher als dass es ihn verhüllt, und mit der nur halb verdeckten Brustwarze tritt ein dezidiert erotisches Moment in die Darstellung.

Gerrit Dou, Bildnis eines unbekannten Schwarzen, um 1630/35, Eichenholz, 43.4 x 33.9 cm, Inv.-Nr. KA 156/1967

Gerrit Dous Gemälde wurden schon früh bewundert und begeistert gesammelt. Der Schüler Rembrandts war einer der erfolgreichsten Maler seiner Zeit, sein Fleiß war legendär – und die Preise für seine international begehrten Bilder waren es auch. Einer seiner Biografen berichtet, dass stets ein Tuch über der Staffelei in Dous Leidener Atelier ausgespannt war, damit sich kein Staubkörnchen auf die feinmalerisch glatte Malfläche lege, ein anderer schreibt, Dou habe seine Pinsel aus demselben Grund stets sicher verschlossen aufbewahrt. Beim Anblick des Bildes in Hannover, auf dem ein unbekannter Afrikaner in orientalischem Kostüm dem Betrachter über die Schulter entgegenblickt, mag man diesen Informationen gerne Glauben schenken. Solche Tronien, Kopfstudien von Orientalen in exotisierender Tracht, von Soldaten oder alternder Menschen waren in der Leidener Malerei überaus beliebt.

Jacob van Es, Blumenstillleben, um 1650, Eichenholz, 51 x 36 cm, Inv.-Nr. PAM 1011, Geschenk des Förderkreises der Niedersächsischen Landesgalerie

Jacob van Es arrangiert in seinem Blumenstrauß Rosen, eine meisterhaft gemalte Iris und vier Tulpen, deren gelb-rot flammende Blüten in kostbarer Vereinzelung vor dem schlichten Fond juwelenhaft aufleuchten. Letztere wurden von dem auf Stillleben spezialisierten flämischen Maler nicht zufällig als Motiv ausgewählt. Heute sind Tulpen günstige Massenware, im 17. Jahrhundert waren sie jedoch ein begehrtes Luxusgut. Kurz nachdem die ersten farbenprächtigen Exemplare Mitte des 16. Jahrhunderts aus Konstantinopel nach Wien und von dort nach Holland gelangt waren, brach ein wahrer Begeisterungssturm für die neu entdeckte Pflanze aus. In kürzester Zeit erlag ein ganzes Land dem bunten Farbenspiel der Blüten, und an der Amsterdamer Börse wurden horrende Summen für die originellsten Züchtungen geboten. Bis zu 5000 Gulden – das 17fache des Jahreseinkommens eines Handwerkers – wurden für eine einzige Zwiebel aufgebracht. 1637 kollabierte das Verhältnis von Angebot und Nachfrage vollends und es kam zum ersten dokumentierten Börsenkrach der Wirtschaftsgeschichte.

Bernardo Bellotto, Venezianisches Capriccio mit Ansicht von Santa Maria dei Miracoli, um 1740, Leinwand, 41 x 66 cm, Inv.-Nr. L 029, Leihgabe der Fritz Behrens Stiftung Hannover

Den meisten Betrachter*innen ist auf Anhieb klar, welche Stadt hier zu sehen ist: Es ist Venedig, genauer gesagt die Kirche S. Maria dei Miracoli, die hier von Bernardo Bellotto geradezu melancholisch in Szene gesetzt wird. Der italienische Maler ist berühmt für seine spektakulären Ansichten der Lagunenstadt. Immer wieder malte er die Hauptattraktionen Venedigs – anfangs noch gemeinsam mit seinem Arbeitgeber Antonio Canal, ab 1430 aber auch selbstständig. Die Bilder wurden mit der Camera obscura vorbereitet und dann in einem aufwendigen Verfahren über verschiedene zeichnerische Zwischenstufen zu stimmungsvollen Gesamtkompositionen arrangiert.

Giovanni Paolo Pannini, Das Innere der Peterskirche in Rom, 1755, Leinwand, 98 x 133 cm, Inv.-Nr. PAM 833

Giovanni Paolo Pannini lenkt den Blick in die bedeutendste Kirche der Christenheit, den Petersdom in Rom. Unmittelbar anschaulich wird die ungeheure Größe des Baus. Nach und nach erschließt sich, wie geschickt Pannini seine Perspektive inszeniert. Die eine Pfeilerreihe des Langhauses führt lotrecht in die Tiefe, die andere ist schräg gesetzt. Erst allmählich beginnt das Auge auch in die Seitenschiffe zu schweifen, neue Farben und Aspekte der Ausstattung treten hinzu. Durch das in steilem Winkel einfallende Licht werden vor allem die Staffagefiguren hervorgehoben: Rechts finden sich einige schlichter gekleidete Besucher, ansonsten bevölkern das Kircheninnere höher gestellte Personen; auch einige Mönche und sogar ein Kardinal haben sich unter die Menge gemischt.

Giovanni Paolo Pannini hat St. Peter in Rom mehrfach in Bildern studiert. Seine Gemälde fanden bei den barocken Touristen, vor allem Adeligen auf der »grand tour«, geradezu reißenden Absatz. Und schon die Zeitgenossen lobten Pannini nicht nur wegen seiner Fähigkeiten in der Perspektive, sondern auch als herausragenden Koloristen, dessen Pinselstrich verführt und dessen Arbeit man die Mühen nicht ansieht.  Vergleicht man seine Ansicht des Inneren von St. Peter mit den Fotografien der Touristen heute, dann wird deutlich, wie intensiv Pannini sich mit der Kirche beschäftigt hat. Dem Maler gelingt das Kunststück, diesen gewaltigen Bau mit den Mitteln der Perspektive und durch Licht und Farbe regelrecht in Szene zu setzen.

Josef Ernst von Bandel, Venus, sich schmückend, 1838/76, Marmor, Höhe: 166 cm, Inv.-Nr. PPl 2

Josef Ernst von Bandel war ein deutscher Architekt, Bildhauer und Maler, der heute vor allem für sein kolossales Hermannsdenkmal bekannt ist: Die 26 Meter hohe Statue wurde 1875 bei Detmold aufgestellt, da man dort den historischen Schauplatz der Varusschlacht vermutete. Der Künstler selbst bezeichnete jedoch Zeit seines Lebens ein anderes Werk als sein »Hauptstück und Prachtwerk«: Die sich schmückende Venus! Lebensgroß sitzt die Göttin der Liebe mit untergeschlagenem rechtem Bein auf einem verzierten dreibeinigen Hocker, auf den auch die Gewänder herabgesunken sind. Zu Füßen der Aktfigur steht ein reich ornamentiertes Schmuckkästchen, aus dem Perlenketten und ein Haarband geradezu hervorquellen. Direkt nach dem Bade ist die Schönheit gerade noch dabei, ihr wallendes Haar zu flechten, zu binden und in Zöpfen um den Kopf zu legen. Nicht nur die Frisur und das klassische Profil der Göttin, ihre ganze Körpergestaltung ist von der Kunst der Antike inspiriert. Vor allem die »Kapitolinische Venus« diente dem Künstler als Vorbild, auch wenn diese eine ganz andere Körperhaltung aufweist. Als Ernst von Bandel 1831/32 und 1834 erste Modelle der Venusfigur anfertigte, wurde die berühmte römische Plastik, eine Kopie nach der nicht erhaltenen sogenannten Knidischen Venus des Praxiteles, gerade in den Kapitolinischen Museen in Rom neu aufgestellt. Mit der Ausführung seiner Venus begann Bandel 1838 in Carrara anlässlich seines zweiten Italienaufenthalts. Nach einer längeren Unterbrechung wurde sie dort zwischen 1843 und 1844 vollendet; 1846 war die Marmorskulptur mit ihrer glatten, ehemals extrem polierten Oberfläche auf der 14. Kunstausstellung in Hannover zu sehen.

Max Liebermann, Reiter, nach links, am Strand, 1912, Öl auf Kartonpapier auf Leinwand, 49 x 39.5 cm, Inv.-Nr. KM 125/1949

Die holländische Malerei, die Landschaften und die Menschen hatten einen großen Einfluss auf die Kunst Max Liebermanns. Ab 1874 verbrachte der Künstler, der heute neben Max Slevogt und Lovis Corinth zu den wichtigsten deutschen Impressionisten zählt, die Sommermonate regelmäßig an der holländischen Nordseeküste. Dort studierte er das Landleben der einfachen Leute und widmete sich der Freilichtmalerei. Immer wieder malte er auch Reiter am Strand – diese ständige Wiederholung eines Themas zeigt, dass das Motiv für Liebermann in seiner impressionistischen Phase eigentlich nebensächlich war, und ihn stattdessen vor allem die wechselnden Wetter- und Lichtverhältnisse interessierten. Die gezeigte Version ist eine Art gemalte Fotografie, vergleichbar mit heutigen »Schnappschüssen«: Im Gegenlicht der Sonne zeigt es formatfüllend die Silhouette eines Reiters im neusten Sportdress – es ist die bis heute etablierte Reitermode mit Kniehosen und Schirmkappe. 1913 reiste Liebermann das letzte Mal nach Holland, nach Ausbruch des 1. Weltkrieges kehrte er nie wieder dorthin zurück.

Max Slevogt, Selbstmordautomat, 1917, Kreidelithografie, 54.4 x 40 cm, Blatt 17 aus der Mappe »Gesichte«, Inv.-Nr. II/119

Heute erinnern wir uns an Max Slevogt als einen der wichtigsten deutschen Impressionisten, bekannt vor allem für seine Pfälzer Landschaftsbilder. Doch diese Sichtweise ist zu einseitig, denn Slevogt hat zeitlebens nicht nur nach der Natur, sondern auch aus der Phantasie heraus produziert. Das zeigt zum Beispiel die 21 Stein- und Zinkdrucke umfassende Mappe »Gesichte«, in der der Künstler unter anderem seine 1914 an der Westfront gemachten Erfahrungen als Kriegsberichterstatter verarbeitet. Eines der Blätter ist der »Selbstmordautomat«: Was wie eine Parkuhr anmutet, bietet in Wirklichkeit eine Möglichkeit, dem eigenen Leben schnell und effizient ein Ende zu setzen. Bei Münzeinwurf löst sich ein Schuss aus der Pistole und trifft den lebensmüden Anwender direkt ins Herz. Das Angebot scheint beliebt, gleich zwei gut gekleidete Herren sind an diesem Morgen anonym in die gepflegte Berliner Allee gekommen, um es in Anspruch zu nehmen. Slevogt schafft mit dieser Grafik eine Karikatur des Großstadtlebens zurzeit der »Belle Epoque«. Diese Jahre vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges sind für den Künstler eben nicht nur eine „Schöne“, sondern auch eine verlogene Zeit, in der die Menschen nach außen protzen und nach innen verderben. Melancholie und Depression waren weit verbreitet, der Freitod für viele der einzige Ausweg.

Lovis Corinth, Susanna und die beiden Alten, 1923, Öl auf Leinwand, 150.5 x 111 cm, Inv.-Nr. KM 123/1954, Dauerleihgabe der Landeshauptstadt Hannover

Aktdarstellungen sind ein typisches Motiv in Corinths Malerei. Immer wieder setzte der Künstler nackte Körper in unterschiedlichen Kontexten und Facetten in Szene. Das 1923 entstandene Gemälde »Susanna und die beiden Alten« wählt ein religiöses Sujet als Schauplatz der Nacktheit und vereint damit gleich zwei Schwerpunkte von Corinths Arbeit. Vorbild für die Darstellung ist eine Erzählung aus den Apokryphen: Susanna wird von zwei alternden Richtern beim Baden beobachtet und zum Geschlechtsverkehr gedrängt. Corinth setzt das Motiv mehrmals um. In einer frühen Version liegt der Fokus noch auf der Wiedergabe des sinnlichen Frauenaktes, in dieser letzten Version des Themas ist die Bildstimmung hingegen ins Bedrohliche gekippt. Susanna steht als Aktfigur mit dem Rücken zum Betrachter, überragt von den nur schemenhaft dargestellten Alten. Sie versucht, sich vor den lüsternen Blicken zu schützen, scheint aber keine Möglichkeit zur Flucht zu haben. Die nah beieinanderstehenden, bildfüllenden Figuren suggerieren eine beklemmende Enge. Die Konturen scheinen durch den expressiven Pinselstrich geradezu in Auflösung begriffen. Und durch die unwirklich anmutenden Rosatöne, in denen das gesamte Bild gehalten ist, scheint es, als strahle der Fleischton des Aktes auf das gesamte Bild aus. Diese Verunklärung des Raumes und die Eigenwertigkeit der Farbe sind typische Charakteristika für Corinths Spätwerk – nicht mehr die Sinnlichkeit des nackten Körpers, sondern die Malerei selbst steht im Fokus.

gut zu wissen

ausstellungen

Große Teile unserer Kunstsammlung sind in unserer Dauerausstellung »KunstWelten« zu sehen, die zurzeit aufwändig saniert und neugestaltet wird. Wichtige Sonderausstellungen der vergangenen Jahre sind: »Glenn Brown. The Real Thing« (2023) | »Nach Italien. Eine Reise in den Süden« (2022) | »Im Freien. Von Monet bis Corinth« (2021) | »Zeitenwende 1400. Die Goldende Tafel als europäisches Meisterwerk« (2019) | »Romantische Blicke. Deutsche Zeichnungen des 19. Jahrhunderts« (2018) | »Max Slevogt – eine Retrospektive zum 150. Geburtstag« (2018) | »Schatzhüterin. 200 Jahre Klosterkammer Hannover« (2018) | »Nackt und bloß. Lovis Corinth und der Akt um 1900« (2017) | »Silberglanz: Von der Kunst des Alterns« (2017) | »Mythos Heimat: Worpswede und die europäischen Künstlerkolonien« (2016) | »Madonna. Frau – Mutter – Kultfigur« (2016) | »Brandbilder. Kunstwerke als Zeugen des Zweiten Weltkriegs« (2015) |

bestandskataloge

Die Bestände sind in insgesamt neun seit 1957 erschienenen Bestandskatalogen erfasst, einige davon sind online abrufbar:

Gert von der Osten: Katalog der Bildwerke in der Niedersächsischen Landesgalerie Hannover, München 1957 (Kataloge der Niedersächsischen Landesgalerie und der Städtischen Galerie 2)

Klaus Weschenfelder: Die Ölskizzen in der Niedersächsischen Landesgalerie Hannover, Hannover 1983 (Kataloge der Niedersächsischen Landesgalerie Hannover 4)

Hans Werner Grohn, Bernd Schälicke, Meinolf Trudzinski: Von Cranach bis Monet. Zehn Jahre Neuerwerbungen, 1976–1985, Bildband und Ausstellungskatalog Niedersächsische Landesgalerie und Städtische Galerie Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Landesgalerie, 1985

Meinolf Trudzinski: Niedersächsisches Landesmuseum Hannover / Kupferstichkabinett: Die italienischen und französischen Handzeichnungen im Kupferstichkabinett der Landesgalerie, Hannover 1987

Angelica Dülberg: Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Landesgalerie. Die deutschen, französischen und englischen Gemälde des 17. und 18. Jahrhunderts sowie die spanischen und dänischen Bilder: kritischer Katalog mit Abbildungen aller Werke, Hannover 1990

Ludwig Schreiner: Die Gemälde des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts in der Niedersächsischen Landesgalerie Hannover, 2 Bde., Hannover 1990 (Kataloge der Niedersächsischen Landesgalerie Hannover 3)

Michael Wolfson: Niedersächsisches Landesmuseum Hannover / Landesgalerie. Die deutschen und niederländischen Gemälde bis 1550: kritischer Katalog mit Abbildungen aller Werke Hannover 1992

Hans Werner Grohn (Hg. u. Bearb.): Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Landesgalerie. Die italienischen Gemälde: kritischer Katalog mit Abbildungen aller Werke, Hannover 1995

Heide Grape-Albers (Hg.) / Ulrike Wegener (Bearb.): Niedersächsische Landesgalerie Hannover. Die holländischen und flämischen Gemälde des 17. Jahrhunderts, Hannover 2000

jahrbuch »niederdeutsche beiträge zur kunstgeschichte«

Die Niederdeutschen Beiträge zur Kunstgeschichte sind seit ihrem ersten Erscheinen 1961 das zentrale Periodikum zur Kunstgeschichte Nordwestdeutschlands. Sie sind ein Publikationsort für grundlegende Untersuchungen zur Kunst- und Kulturgeschichte der Region sowie ihrer internationalen Bezüge. In insgesamt 44 Bänden wurden unter der Herausgeberschaft des niedersächsischen Landesmuseums Hannover bis 2006 rund 420 Aufsätze zur Architektur, Malerei, Skulptur und dem Kunstgewerbe vom 8. bis ins 20. Jahrhundert publiziert; fachlich begleitet durch ein Gremium international angesehener Wissenschaftler. 2015 wurde die Reihe inhaltlich und gestalterisch grundlegend neu positioniert. Die Bände erscheinen seither in zeitgemäßem Layout und mit geschärftem inhaltlichen Profil unter der Herausgeberschaft der drei niedersächsischen Landesmuseen. Für das Landesmuseum Hannover sind zuletzt folgende Bände erschienen:

Cornelia Aman / Babette Hartwieg (Bandherausgeber): Das Göttinger Barfüßerretabel von 1424. Akten des wissenschaftlichen Kolloquiums, Landesmuseum Hannover, 28.–30. September 2006, Ergebnisband des Restaurierungs- und Forschungsprojektes, Petersberg 2015 (Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte, Neue Folge 1)

Antje-Fee Köllermann / Christine Unsinn (Bandherausgeber): Die Goldene Tafel aus Lüneburg: Akten des wissenschaftlichen Kolloquiums, Ergebnisband des Forschungsprojektes, Petersberg 2021 (Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte, Neue Folge 5/6)

kulturerbeportal niedersachsen

Das Kulturerbeportal Niedersachsen ist ein gemeinsames Internetangebot von Bibliotheken, Archiven und Museen des Landes Niedersachsen. Große Teile unserer Kunstsammlung sind darüber digital zugänglich.

freunde der landesgalerie

Die Schätze in einer der bedeutendsten Kunstsammlungen Niedersachsens bekannter zu machen, sie zu vermitteln, die Sammlung selbst zu fördern und gemeinsam Kunst zu erleben – das sind die Ziele, die sich die Freunde der Landesgalerie Hannover gesetzt haben. Seit ihrer Gründung im Jahr 1952 fördern die Freunde der Landesgalerie Hannover die einzigartige Kunstsammlung des Landesmuseums Hannover durch Ankaufsunterstützungen, bei Ausstellungen, durch Veranstaltungen und durch die finanzielle Unterstützung wissenschaftlicher Publikationen.

kontakt

Dr. Thomas Andratschke
Landesgalerie | Kurator Neue Meister
T + 49 (0) 511 98 07 – 625
thomas.andratschke@landesmuseum-hannover.de

Dr. Antje-Fee Köllermann
Landesgalerie | Kuratorin Alte Meister
T + 49 (0) 511 98 07 – 704
antje-fee.koellermann@landesmuseum-hannover.de